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Mobilität

Die Kurve kriegen

Software-Boom im Mobilitätsgeschäft

Langzeitbelichtung eines Mercedes-Benz EQS bei Dämmerung auf dem Testgelände von Bosch in Boxberg.

Die Fahrbahn ist regennass, Ralf Manemann tritt aufs Gaspedal. Auf 100 Kilometer pro Stunde beschleunigt er das 2,8 Tonnen schwere Elektroauto. „Wir fahren nach rechts“, warnt er seine Mitfahrenden kurz – und reißt dann plötzlich das Lenkrad herum. Alle Insassen rutschen an den Rand ihrer Sitze, es drückt sie in die gestrafften Sicherheitsgurte. Jetzt müsste das Heck ausbrechen, das Fahrzeug schleudern oder driften, die Reifen quietschen. Das denkt, wer so ein Manöver nur aus dem Kino kennt. Doch das mit spezieller Bosch-Technik ausgestattete Versuchsfahrzeug bleibt stabil auf Kurs und fährt eine lang gezogene Kurve. Manemann stoppt den Wagen, schaut auf die Diagramme im Fahrzeugdisplay und ist zufrieden. „Der Feinschliff fehlt, aber wir sind schon bei 80 Prozent“, sagt der Ingenieur nach Ende des Versuchs auf der Bosch-Teststrecke in Boxberg.

Lenkung und Bremse haben fast perfekt zusammengearbeitet – dank einer neuen Software für das „Vehicle Motion Management“, die Steuerung aller Fahrzeugbewegungen. „Durch den Einschlag des Lenkrads hätten die Räder einen Lenkwinkel von acht Grad haben müssen“, erklärt der Experte für Systemapplikation von Automotive Steering. Die Software aber steuerte gegen, erlaubte nur einen Winkel von gut zwei Grad – so viel, wie bei diesen Verhältnissen noch sicher war. Das ist möglich, weil Bremspedal und Lenkrad in diesem Wagen keine mechanische Verbindung mehr zu den Rädern haben. Alles läuft elektronisch und über Software.

Über einen kleinen Ruckler zu Beginn diskutiert Manemann mit Funktionsentwicklerin Kerstin Heuß von Chassis Systems Control. Die Lenkung steuerte kurzzeitig zu stark gegen, das Diagramm zeigt einen starken Ausschlag. „Das muss noch flüssiger werden“, analysiert Heuß. „Aber es sind ja auch unsere ersten Testfahrten ohne Schnee und Eis.“ Nach nur vier Monaten und 6 000 Testkilometern ist das Team schon weit gekommen.

Eine für alles

Rund 140 Fachleute aus vier Geschäftsbereichen arbeiten im Projekt „Vehicle Motion Management“ an einem Paradigmenwechsel für Bosch und die Autoindustrie. „Heute ist Software im Auto über viele verschiedene Systeme und Steuergeräte verteilt“, erklärt Projekthausleiter Niccolo Hägele. Lenkung, ESP®-System, Elektromotor – jede Komponente hat ein eigenes Steuergerät mit eigener Software.

Personen aus dem Projektteam stehen neben einem Testfahrzeug.

Diese enge Verbindung löst sich inzwischen auf, auch weil die Hersteller es so wollen. „Wir entwickeln eine Software, die das Fahrzeug in allen drei Dimensionen steuern kann“, sagt Hägele – und die so Aufgaben von Bremse, Lenkung, Antrieb und Fahrwerksregelung vereint, unabhängig von der Hardware. Das ermögliche neue Funktionen und regelmäßige Software-Updates, wie sie bei Fahrzeug-Infotainmentsystemen schon Standard seien. Die Trennung von Hardware und Software sei ein großer Trend in der Autoindustrie und ermögliche es, Fahrzeugherstellern anwendungsspezifische Software auch unabhängig von der Hardware als eigenständiges Produkt gemeinsam mit weiteren Serviceleistungen anbieten zu können.

Zwei Personen betrachten die Auswertung eines Dashboards in einem Fahrzeug.

Doch es sind nicht allein neue Marktrends, die das Projektteam antreiben – sondern vielmehr die Aussicht auf faszinierende neue Funktionen. In jeder Fahrsituation könne die neue Software einen Mehrwert schaffen, ist Entwicklerin Kerstin Heuß überzeugt. „Bei dem Manöver von vorhin hätten wir die Situation zwar auch mit den Bremsen allein unter Kontrolle“, sagt sie. „Aber gemeinsam mit der Lenkung schaffen wir das viel flüssiger.“

Weil auch der Elektromotor in das System eingebunden ist, können zudem Rad- und Motorbremse zusammenarbeiten. „Die Bremse der E-Maschine ist besonders effizient und komfortabel“, betont Harald Paulhart, Software-Entwickler bei Powertrain Solutions. Zudem werde elektrische Energie zurückgewonnen und in der Batterie gespeichert. Die Kombination aus allen Systemen soll für mehr Sicherheit, Fahrspaß und Nachhaltigkeit sorgen, etwa durch geringeren Verbrauch und weniger Verschleiß an den Bremsen.

Jetzt kommt zusammen, was zusammengehört.

Kerstin Heuß, Technische Leiterin Querdynamik

Viele Wochen war das Versuchsfahrzeug im Wintertestzentrum in Schweden und Kunden konnten es Probe fahren. „Viele sagten: ‚Ich hätte nie gedacht, dass ich so gut fahren kann‘“, erinnert sich Kerstin Heuß. „Dabei waren sie es gar nicht, es war unsere Software“, sagt sie schmunzelnd. „Das Auto hat unseren Kunden überzeugt, dass wir der richtige Partner für eine zentralisierte Fahrzeugarchitektur sind“, sagt Manoj Nagarajan vom Kundenteam für einen Premium-Fahrzeughersteller.

Neue Aufstellung

In dem Projekt arbeiten Fachleute aus vier Bosch-Geschäftsbereichen zusammen. Es ist ein Paradebeispiel dafür, warum sich Bosch Mobility aktuell für die Zukunft neu aufstellt. Ab 2024 werden unter anderem die heutigen Geschäftsbereiche für Brems- und Lenksysteme, Chassis Systems Control und Automotive Steering, zum Bereich Vehicle Motion verschmelzen.

„Jetzt kommt zusammen, was sowieso zusammengehört“, meint Kerstin Heuß. Ihr Projektteam arbeitet schon heute in einer ähnlichen Konstellation. Anfangs habe man erst eine gemeinsame Sprache finden müssen. Nun sehe sie sich nicht mehr als Expertin für Bremsen oder Lenkung, sondern für beides. „Am Ende ist es die gemeinsame Arbeit am Fahrzeug, die uns zusammenbringen wird.“ sagt auch Ralf Manemann, bevor er zur nächsten Testfahrt aufbricht.

Das Testfahrzeug fährt eine enge Kurve auf dem Testgelände von Bosch in Boxberg.

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