Nachhaltige Megastädte
Interview mit Prof. Dr. Hans-Jörg Bullinger
Prof. Hans-Jörg Bullinger
Prof. Dr. Hans-Jörg Bullinger war bis 2012 Präsident der Frauenhofer-Gesellschaft und gehört heute dem Senat des Forschungsverbunds an. Für seine Verdienste um die Entwicklung der Region Stuttgart wurde er 2013 mit dem Hans-Peter-Stihl-Preis ausgezeichnet.
New York, Rio, Tokio – womit erklären Sie sich den Reiz, den diese und andere Millionenstädte auf viele Menschen ausüben?
Bullinger: Die genannten Städte sind nicht nur die Kulturträger unserer Gesellschaft, sondern auch Anlaufpunkte und Durchgangsstationen der globalen Entwicklung. Je weiter sich unsere technischen Lösungen entwickeln, je effizienter wir unsere vorhandenen Ressourcen in Produkte und Dienstleistungen verwandeln und je mobiler, älter und digitaler unsere Gesellschaft wird, desto eher sind Städte als zentrale Knotenpunkte der Zukunft zu betrachten. Zugleich ist nicht von der Hand zu weisen, dass Ballungsräume wie Rio, Tokio oder New York auch gewaltige Herausforderungen zu bewältigen haben, darunter Ver- und Entsorgung, Feinstaubverschmutzung und Überbevölkerung. Wenn wir die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts nicht in unseren Städten lösen können, wo dann? Beispielhaft hierfür ist ein Forschungsprojekt des Fraunhofer-Instituts für Optronik, Systemtechnik und Bildauswertung. Die Karlsruher Kollegen haben an einem Ressourcenmanagement-System gearbeitet, das die rasant wachsende Megastadt Peking auch in den Trockenperioden nachhaltig und skalierbar mit Wasser versorgt.
In Ihrem 2012 erschienenen Buch „Morgenstadt – Wie wir morgen leben“ zeigen Sie beispielhaft, wie die Städte der Zukunft aussehen könnten. Worin konkret unterscheiden sich diese Modell-Metropolen von heutigen Megacities?
Bullinger: Die Vision der Morgenstadt beschreibt den Ansatz, nicht nur unsere heutigen Infrastrukturen und Systeme weiter zu optimieren, sondern auch innovative Lösungen an den Schnittstellen verschiedener Bereiche zu entwickeln. So stellen wir zum Beispiel eine anhaltende Verschmelzung technischer Systeme fest, die durch die Dezentralisierung der Energieversorgung, das mobile Internet und die Elektromobilität bereits begonnen hat und die nächsten zwanzig bis dreißig Jahre anhalten wird. Das heißt, wir werden Städte künftig auch als Labore verstehen, in denen wir genau solche flexiblen Lösungen testen und in der Praxis optimieren können. Die Morgenstadt ist somit einfach gesprochen ein Ort, der weniger seinen Status quo verwaltet, sondern aktiv seine Zukunft gestaltet.
Angesichts der aktuellen Umweltprobleme einer Stadt wie Shanghai erscheinen solche Visionen weit entfernt. Was sind aus Ihrer Sicht die naheliegenden Ansatzpunkte für einen Richtungswechsel?
Bullinger: Ein zentraler Aspekt, den unsere Forscher aktuell in dem Fraunhofer-Verbundprojekt „Morgenstadt: City Insights“ herausarbeiten, basiert darauf, einzelne Stadtquartiere und Nachbarschaften als Anwendungsfeld zu sehen. Dort sind Konzepte zu Micro-Smart-Grids, Car-Sharing-Systemen oder zur dezentralen Wasserversorgung leichter umzusetzen und teilweise weniger schadensanfällig als im großen Kontext.
Gibt es bereits heute Städte, die in punkto Nachhaltigkeit mit gutem Beispiel vorangehen?
Bullinger: Aktuelle Erkenntnisse aus unserem Verbundprojekt zeigen, dass Freiburg, Kopenhagen und Singapur bereits in vielerlei Hinsicht wirkungsvolle Projekte umsetzen. Genauso haben wir in Deutschland auch kleine Bioenergie- oder Solardörfer, die bereits einen Großteil ihrer Energie regenerativ erzeugen. Die zentrale Herausforderung bleibt jedoch, Nachhaltigkeit nicht als Selbstzweck zu sehen, sondern diese in heutigen Wertschöpfungsprozessen als selbstverständliche Anforderung zu integrieren. Wenn wir kein Geschäftsmodell durch Investitionen in Nachhaltigkeit erzeugen können, wird die Mission Morgenstadt ihr Ziel nicht erreichen.
Energetisch optimierte Gebäude, regenerative Stromerzeugung, Elektrofahrzeuge: Woher kommen die für den ökologischen Umbau erforderlichen finanziellen Mittel?
Bullinger: Die Bundesregierung hat mit verschiedenen Zukunftsprojekten wie dem Umbau unserer Energieversorgung, der Industrie 4.0 und der Morgenstadt die Weichen und Leitplanken für die nächsten Jahrzehnte gestellt. Damit verbunden ist aber auch die Erkenntnis, dass wir unsere Städte nicht ausschließlich durch staatliche Förderung transformieren können. Allein für die energetische Sanierung des Gebäudebestands bräuchte es mehrere hundert Milliarden Euro. Ähnlich verhält es sich mit den anderen Stadtsystemen. Wir müssen die wirtschaftliche Dimension, also die gewaltigen Wertschöpfungspotenziale von Deutschland als internationalem Leitanbieter für nachhaltige Stadtsysteme nutzen. Ein guter Ansatz hierfür wäre, dieses Know-how in unseren Städten zu demonstrieren.
Inwiefern können global agierende Technologiekonzerne wie Bosch zum ökologischen Umbau von Megacities beitragen?
Bullinger: Technologiekonzerne liefern die Produkte und Systeme, die in Städten zum Einsatz kommen, und haben so großen Einfluss auf die zukünftige Entwicklung. Vorausgesetzt, die Geschäftsmodelle und Wertschöpfungsketten verändern sich: Solange die Unternehmen beispielsweise Batteriespeicher oder Bahnfahrzeuge kaufen müssen anstatt eine Nutzungsgebühr für sie zu bezahlen, werden Entwicklungsprozesse unnötig verlängert. Könnten sie sich hingegen beispielsweise als Betreiber von Technologieplattformen etablieren, entstünden Win-Win-Situationen, die weitere Investitionen für den ökologischen Umbau freisetzen.
Als Buchautor und Forscher haben Sie sich intensiv mit Lösungen für die Städte der Zukunft beschäftigt. Welche hat aus Ihrer Sicht das größte Potenzial, die Metropolen dieser Welt nachhaltig zu verändern?
Bullinger: Diese Frage lässt sich angesichts der Komplexität aktueller Herausforderungen nicht eindeutig beantworten. In Zeiten wachsender Städte haben Erfindungen wie die Eisenbahn, der Aufzug oder das Automobil das Erscheinungsbild entscheidend verändert. Heute wachsen zumindest unsere europäischen Städte nicht mehr weiter, so dass selbst zukunftsweisende Technologien nur schwer den Weg in die Anwendung finden. Wir brauchen mehr dezentrale, flexible Lösungen. Nehmen Sie das individualisierte Smartphone mit mobilem Internet und eingebauten Sensoren als Schlüssel für neue Beteiligungsformen, Geschäftsmodelle und Sensornetzwerke. Diese Potenziale für den nachhaltigen Umbau unserer Städte und die Transformation urbaner Prozesse ist noch längst nicht ausgeschöpft. Bei Fraunhofer arbeiten sehr viele Institute im Rahmen der Morgenstadt-Initiative bereits an solchen Schlüsselinnovationen.
(Die Fragen beantwortete Prof. Dr. Hans-Jörg Bullinger im August 2013)