OECD Better Life Initiative
Interview mit Martine Durand
Martine Durand
Martine Durand ist seit 2010 Leiterin der OECD-Statistikabteilung. Sie gibt die strategische Ausrichtung der Abteilung vor und zeichnet für sämtliche statistische Tätigkeiten der OECD verantwortlich. Davor war sie Stellvertretende Leiterin des OECD-Direktorats für Beschäftigung, Arbeit und Soziales.
2011 entwickelte und startete die OECD die Better Life Initiative, um die Lebensqualität unterschiedlicher Nationen zu messen und zu vergleichen.
Wie sehen die Ziele dieser Initiative aus?
Durand: Die Better Life Initiative hat drei Hauptziele. Das erste besteht darin, ein breites Spektrums an international vergleichbaren Indikatoren für gesellschaftliches Wohlergehen anzusammeln, um die strategische Vorgehensweise vielschichtig und differenziert zu gestalten. Dies umfasst auch eine Einschätzung, wie sich die Länder auf den zahlreichen Ebenen bewegen, die das Leben ihrer Bürger prägen ‒ und wie sich Politik über die Zeit verändert. Die Indikatoren sind auch hilfreich, um den Einfluss von Politik auf spezielle Komponenten des gesellschaftlichen Wohlstands einzuschätzen.
Zweitens zielen wir darauf ab, in Zukunft bessere Maßstäbe für gegenwärtigen und künftigen Wohlstand zu entwickeln. Das tun wir, indem wir verfügbare Daten auswerten, ihrer Qualität beurteilen und Maßnahmen empfehlen, um Bewertungskriterien auf lange Sicht zu verbessern.
Letzten Endes wollen wir uns mit den Bürgern gemeinsam für eine Agenda des gesellschaftlichen Wohlergehens engagieren, indem wir die öffentliche Wahrnehmung von Lebensqualität messen und genauer verstehen, welche Aspekte im Alltag der Menschen am wichtigsten sind.
Darüber hinaus hat die OECD vier Faktoren identifiziert, die gesellschaftliches Wohlergehen langfristig beeinflussen. Welche sind das?
Durand: Unser Modell erfasst künftigen Wohlstand, indem wir Ressourcen berücksichtigen, die eine gewisse Zeit fortbestehen und die man als „Kapital“ betrachten kann. Das sind Ressourcen, die Werte bewahren können und die mit der Zeit diverse Vorteile für Menschen und Gesellschaften mit sich bringen. Dazu haben wir vier Typen von Kapital identifiziert:
Ökonomisches Kapital umfasst produziertes Kapital, zum Beispiel von Menschen hergestellte, fassbare Güter, und finanzielles Kapital wie Geld auf der Bank oder Aktien eines Unternehmens.
Natürliches Kapital bezieht sich auf Umweltaspekte. Das können spezifische Güter wie Energiequellen sein, aber auch weiter gefasste Ökosysteme, die das gemeinsame Wirken oder Interagieren verschiedener Umweltressourcen umfassen.
Das menschliche Kapital kann man unterschiedlich definieren. Typischerweise bezeichnet es Aspekte wie Wissen, Fähigkeiten, Kompetenzen und Gesundheit von Individuen.
Soziales Kapital zeigt sich in sozialen Normen, Vertrauen und in Werten, die die Kooperation innerhalb gesellschaftlicher Gruppen und auch zwischen verschiedenen Gruppen fördern.
Wie würden Sie den gegenwärtigen Status dieser Kapitale einschätzen?
Durand: Jeder Typus von Kapital schließt viele unterschiedliche Ressourcen ein. Einige davon sind bereits präzise erfassbar, bei anderen hingegen fehlt es bislang an international vergleichbaren Maßstäben. Saubere Atemluft beispielsweise ist ein wichtiger Aspekt unserer natürlichen Umwelt. Obwohl die durchschnittliche Luftverschmutzung in vielen OECD-Ländern in den vergangenen zehn Jahren ständig abgenommen hat, gilt dies noch nicht durchgängig. Und es gibt große Unterschiede bezogen auf den Umfang, in dem Menschen der noch verbliebenen Verschmutzung ausgesetzt sind. Das ist häufig abhängig vom genauen Wohnort. Für die Gesundheit und das Wohlbefinden vieler Menschen in den großen Städten der Welt ist die Qualität der Atemluft ein kritischer Faktor: jetzt und in der Zukunft.
Wir können auch Trends bei den Bildungsabschlüssen feststellen, die uns Einsichten in die Entwicklung des menschlichen Kapitals vermitteln. Während der letzten 15 Jahre konnten wir in den meisten OECD-Ländern bei Menschen im Erwerbsalter eine ständige Zunahme der Qualifikation feststellen. Jedoch gilt auch: Jedes Land entwickelt die Fähigkeiten und das Wissen seiner Bewohner in unterschiedlichem Tempo.
Wo sehen Sie die zentralen Herausforderungen bei der Dokumentation und Messung von Ressourcen, die gesellschaftliches Wohlergehen langfristig sichern?
Durand: Herausforderungen gibt es viele. Das fängt schon bei der Definition für Konzepte wie soziales Kapital an. Dessen Ausgestaltung ist weniger klar als die der anderen Kapitalarten und wird immer wieder auf unterschiedliche Weise beschrieben. Unser Ziel war und ist, den gemeinsamen Nenner der verschiedenen Ansätze zu finden. Zum Beispiel sind wir bei Menschen und Institutionen sehr an dem Aspekt „Vertrauen“ interessiert. Er ist eine Form des sozialen Kapitals, die besonders dabei hilft, eine bessere und effizientere Zusammenarbeit zwischen den Menschen in einer Gesellschaft zu fördern.
Eine weitere typische Herausforderung besteht darin, präzise Indikatoren zu finden, selbst wenn das Konzept bereits exakt definiert ist. Ökonomisches Kapital beispielsweise, ist das am klarsten definierte Kapital. Es kann sich auf die lange Denktradition unter Ökonomen und deren etablierte Maßstäbe wie zum Beispiel die Volkwirtschaftliche Gesamtrechnung beziehen. Und doch gilt: Sogar beim ökonomischen Kapital haben wir keine wirklich vergleichbaren Parameter bezüglich so basaler Konzepte wie Haushaltseinkommen. Hier erfassen wir nur den finanziellen Wohlstand; Wohnungs-, Haus- oder Landeigentum sind nicht mit eingeschlossen.
Sie haben bereits aufgezeigt, welche Herausforderungen mit der Definition einer Ressource wie sozialem Kapital einhergehen. Mit Blick darauf: Wie würden Sie hier eine Ressourcenveränderung messen und bewerten?
Durand: Die meisten Indikatoren für soziales Kapital basieren auf Untersuchungen zum Vertrauen in andere oder in Institutionen, zu sozialen Normen, Haltungen der Menschen gegenüber verschiedenen Gruppen oder ihren Annahmen über die Hilfsbereitschaft anderer. Veränderungen zu erfassen, kann sich also nur auf einen Vergleich der Selbstauskünfte zu Vertrauen und anderen Normen in unterschiedlichen Perioden stützen. So könnte man zum Beispiel erklären, weshalb Ereignisse wie die Finanzkrise zu einem signifikanten Abbau des sozialen Kapitals geführt haben. Es ist jedoch schwerer zu verstehen, welche Art von Investment nötig wäre, um das Vertrauen wieder auf den Stand vor der Krise zu heben. Wir haben bei der OECD gerade ein Projekt über Vertrauen aufgesetzt, um dieser Frage nachzugehen.
Im Rahmen des Better Life Index haben Sie die elf Indikatoren für Wohlbefinden für jedes Land einzeln bewertet. Ist dieser Ansatz auch auf die vier Ressourcen für nachhaltige Lebensqualität anwendbar?
Durand: Ja sicherlich. Es gibt gute Gründe, die vier Grund-Kapitale für jedes Land einzeln auszuweisen. Viele Strategien sind ja dezidiert darauf ausgelegt, die Ressourcen innerhalb nationaler Grenzen zu managen. Andere Erfassungsebenen sind aber auch von Bedeutung. Manche natürliche Kapitale, wie eine intakte Atmosphäre oder saubere Ozeane sind Ressourcen, die alle Menschen auf dem Globus teilen. Sie können nicht für jedes Land einzeln dokumentiert werden und allzu oft haben Aktionen eines Landes weitgehende Auswirkungen auf das Wohlbefinden andernorts. Auch die Verteilung von Ressourcen zwischen unterschiedlichen Gruppen oder Sektoren innerhalb eines Landes kann starke Auswirkungen haben. Dass Menschen in verschiedenen Regionen unterschiedlichen Graden der Luftverschmutzung ausgesetzt sind, könnte hier ein Beispiel sein. Weitere sind die Verteilung von Wohlstand über verschiedene institutionelle Sektoren oder die Ausweitung von menschlichem Kapital über unterschiedliche Gruppen der Gesellschaft hinweg.
Die OECD stellt das aktuelle gesellschaftliche Wohlergehen in Zahlen und Statistiken dar. Gibt es im Rahmen des bereits angesprochenen Ansatzes gegenwärtig Pläne, ähnliche Statistiken über nachhaltiges Wohlergehen zu entwickeln und zu publizieren?
Durand: Zusammen mit den National Statistical Offices arbeiten wir gerade daran, neue Maßstäbe für die Grund-Kapitale zu entwickeln. Als Teil unserer neuen Initiative über Vertrauen bringen wir gerade ein Projekt auf den Weg, das Vertrauen in Institutionen besser erfassen kann. Und im Rahmen der OECD Green Growth Initiative entwickeln wir Maßstäbe, um natürliche Ressourcen zu erfassen und deren Nutzungseffizienz einzuschätzen. Darüber hinaus unterstützt die OECD gerade die Einführung des neuen UN Systems Environmental and Economic Accounting (SEEA), das die Rahmenbedingungen dafür schafft, natürliche Ressourcen innerhalb der nationalen Berechnungssysteme zu erfassen.
Welche Rolle können Unternehmen wie die Robert Bosch GmbH übernehmen, um natürliches, ökonomisches, menschliches und soziales Kapital zu steigern?
Durand: Unternehmen können viel dazu beitragen, gesellschaftliches Wohlergehen nachhaltig zu sichern. Zum Beispiel durch ein sorgfältiges Umweltmanagement, die Reduktion von Emissionen und durch eine nachhaltige Produktion. All dies ist entscheidend, um natürliches Kapital zu erhalten. Durch Investitionen in neue Technologien und durch Innovation tragen Unternehmen darüber hinaus zur Entwicklung des ökonomischen Kapitals bei, auf das künftige Generationen bauen können. Und als Arbeitgeber steigern Unternehmen auch das menschliche Kapital und das soziale Kapital. Zum einen formal durch Aus- und Weiterbildung, zum anderen durch Gesundheits- und Sozialprogramme für die Belegschaft sowie durch die Förderung starker Städte und Kommunen.
(Die Fragen beantwortete Martine Durand im März 2015)