V2X-Technologie: Wie ein Bosch-Notbremsassistent Unfälle verhindert
Durch die V2X-Technologie können Fahrzeuge Daten direkt mit ihrer Umgebung und anderen Verkehrsteilnehmern austauschen. So lassen sich beispielsweise Gefahrensituationen früher erkennen. Ein Projektteam von Bosch Research zeigt, wie das in der Anwendung funktioniert.
Ein eBike nähert sich einer Kreuzung. Ein parkender Transporter versperrt die Sicht – für die Radfahrerin und auch den Autofahrer, der von der anderen Straße heranfährt. Beide sehen einander erst im letzten Moment und bremsen scharf. Eine Schrecksekunde, die gerade noch glimpflich ausgeht. Doch leider können in vielen Situationen die Beteiligten nicht mehr rechtzeitig bremsen und es kommt zu schweren Unfällen. Mit der aktuell steigenden Verkehrsdichte nimmt auch die Häufigkeit solcher gefährlichen Begegnungen zu. „Umso wichtiger sind Technologien, die helfen, kritische Verkehrssituationen frühzeitig zu erkennen. V2X-Kommunikation leistet genau das: mehr Sicherheit für alle“, sagt Frank Hofmann, Chief Expert Connectivity bei Bosch Research.
V2X steht für „Vehicle-to-Everything“ (dt.: „Fahrzeug zu allem“) und ist ein Kommunikationssystem, mit dem Fahrzeuge per Funk Informationen austauschen. V2X umfasst neben der Direktkommunikation in Echtzeit auch den Austausch über eine Cloud. Beide Wege bilden gemeinsam ein hybrides System.
Möglich wird dieser Datenaustausch beispielsweise durch sogenannte Cooperative Awareness Messages, kurz CAM. Das sind periodisch gesendete Positionsmeldungen zur gegenseitigen Wahrnehmung, die Fahrzeuge und andere Verkehrsteilnehmer sich mehrmals pro Sekunde zusenden. Diese Nachrichten folgen einem einheitlichen Datenübertragungsstandard und enthalten stets aktuelle Bewegungsdaten wie Position, Geschwindigkeit und Beschleunigungswerte – sowie Fahrtrichtung, Fahrzeugtyp, Fahrzeugmaße und Lichtstatus. So entsteht ein kontinuierlicher Informationsfluss im Straßenverkehr, der es ermöglicht, gefährliche Situationen frühzeitig zu erkennen. Vernetzte Infrastrukturelemente – etwa Ampeln oder Baustellenanhänger – senden Daten wie ihre Position und situative Informationen – dazu zählen etwa Signalzustände oder Umschaltungen.
In einer Sprache über Grenzen hinweg
Die vernetzte Verkehrsinfrastruktur, mit der V2X-Systeme kommunizieren, hat keinen zentralen Betreiber. Ampeln gehören beispielsweise meist den Städten. Für temporäre Einrichtungen wie Baustellenanhänger ist die Autobahn GmbH des Bundes zuständig. Andere Elemente liegen in der Verantwortung von Landes- oder Bundesbehörden. Damit der Datenaustausch zwischen all diesen Akteuren trotzdem funktioniert, setzt V2X auf einheitliche europäische Standards. Nachrichtenformate und Übertragungswege – etwa die CAM – sind so gestaltet, dass Fahrzeuge und Infrastrukturen verschiedener Hersteller und Betreiber reibungslos kommunizieren. Nur wenn alle Fahrzeuge sowie die Verkehrsinfrastruktur dieselbe „Sprache“ sprechen, können sie gegenseitig Informationen austauschen.
Fahrzeuge empfangen diese Signale und werten sie mit ihren Kommunikations- und Assistenzsystemen in Echtzeit aus. Dabei gleichen sie die empfangenen Signale mit der eigenen Position ab und berechnen, ob eine Gefahr droht. Auf dieser Grundlage können Assistenzsysteme reagieren, etwa indem sie warnen oder automatisch bremsen. Die Entscheidung liegt dabei stets beim Empfängerfahrzeug. CAM liefern lediglich die relevanten Informationen.
Notbremsassistent „sieht“ um die Ecke
Das Potenzial von V2X besteht darin, Sichtbarrieren zu überwinden. „V2X hilft dort, wo Kameras nicht hinschauen können, zum Beispiel um die Ecke oder hinter einen Lkw. Durch die Kommunikation kann das Auto erkennen, was hinter einer Mauer passiert und im Notfall bremsen“, sagt Florian Wildschütte, Forschungsingenieur im Bereich Advanced Digital and AI Solution. Das System erstellt digitale Modelle der Umgebung. Ein Algorithmus berechnet, ob sich Verkehrsteilnehmende auf Kollisionskurs befinden. Wenn nötig, kann das System auf dieser Basis reagieren.
Die Forschenden von Bosch Research entwickeln die bestehenden Notbremsassistenten von Bosch mithilfe der V2X-Technologie weiter, um kritische Situationen noch früher zu erkennen. Im Rahmen des Projekts entstand eine zweistufige Bremsfunktion, gesteuert durch V2X-Daten. Um die neue Technologie zu erproben, hat Bosch ein Demonstrator-Fahrzeug gebaut und die Funktion den Automobilherstellern vorgestellt.
Der Notbremsassistent soll querenden Fahrzeugen und besonders gefährdeten Radfahrenden mehr Sicherheit geben. Anlass sind die laut Statistischem Bundesamt steigende Unfallzahlen, vor allem an Kreuzungen mit eingeschränkter Sicht.
Das eBike redet mit
Das Team von Bosch Research nimmt bei der V2X-Entwicklung eine führende Rolle ein, um die Technologie in künftige Assistenzsysteme zu integrieren und die Verkehrssicherheit zu erhöhen. Während sich viele Entwicklungen im Bereich V2X auf den Pkw-Verkehr richten, setzte Bosch frühzeitig auf die Integration des eBikes.
Beim Fahrrad funktioniert die V2X-Kommunikation nach demselben Prinzip wie im Auto: Ein kleines Funkmodul mit GPS überträgt regelmäßig Bewegungsdaten wie Position und Richtung. Anders als bei Autos greift das System jedoch nicht selbstständig in den Bremsvorgang ein. Solche automatischen Eingriffe gelten beim Fahrrad als zu riskant. Stattdessen sendet das V2X-Modul fortlaufend Positionsdaten an Fahrzeuge in der Umgebung. Die Auswertung übernimmt ein Assistenzsystem im Auto: Es erkennt mögliche Gefahren und kann bei einer drohenden Kollision mit einem herannahenden eBike automatisch bremsen.
„Wir denken ganzheitlich, das Fahrrad ist ein integraler Bestandteil des Verkehrs und soll somit gleichermaßen von Sicherheitsnutzen durch V2X profitieren“, betont Christian Cosyns. Seit der COVID-Pandemie ist die Anzahl Radfahrender in den EU-Staaten stark angestiegen, besonders der eBike-Verkehr. In Deutschland ist inzwischen mehr als jedes zweite neu gekaufte Fahrrad ein eBike. Laut dem Zweirad-Industrie-Verband (ZIV) lag der Marktanteil von eBikes 2024 in Deutschland bei 53 Prozent. Mit dem wachsenden Radverkehr nehmen auch die Unfallzahlen zu und damit der Bedarf an intelligenten Sicherheitssystemen wie V2X. Bosch strebt an, die V2X-Technologie für eBike-Hersteller verfügbar zu machen und damit das Fahrrad gleichberechtigt in die Verkehrskommunikation einzubinden.
V2X auf der Teststrecke: Potenziale und Praxis
Eine Datenanalyse der German In-Depth Accident Study (GIDAS), durchgeführt von Bosch Research und der Bosch-Unfallforschung, zeigt: Die Technologie kann das Unfallrisiko drastisch senken. „Im Laufe des Projekts haben wir in unseren Simulationen 45 000 reale Unfälle mit Personenschaden in Deutschland analysiert und festgestellt, dass mit einem V2X-basierten Bremssystem bis zu 21 500 davon vermeidbar gewesen wären“, sagt Jan Zimmermann, Forschungsingenieur im Bereich Advanced Digital and AI Solution.
Nach der Simulation wurde die Technologie unter realen Bedingungen getestet: Auf einer Teststrecke wurde ein Fahrrad-Dummy mit GPS und V2X-Modul so über die Fahrbahn gezogen, dass er plötzlich und für das Auto zunächst unsichtbar aus einer Seitenstraße kam. Der Dummy sendete in Echtzeit standardisierte Bewegungsdaten per Funk. Das Auto empfing die Nachricht, erkannte die drohende Kollision und leitete automatisch eine Notbremsung ein. Getestet wurde mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten: Das Auto fuhr je nach Versuch zwischen 20 und 60 km/h, das Fahrrad zwischen 15 und 20 km/h. „Das Auto hat rechtzeitig gebremst, der Unfall konnte vermieden werden“, sagt Jan Zimmermann.
Vom kleinen „Gesprächskreis“ zur Massenkommunikation
Es gibt einen Grund dafür, dass sich V2X bisher noch nicht flächendeckend durchgesetzt hat. Das System entfaltet sein volles Potenzial nur, wenn möglichst viele Fahrzeuge damit ausgestattet sind. „Gerade in der Anfangsphase, in der die Marktdurchdringung noch nicht hoch ist, braucht es V2X‑Funktionen mit frühen Nutzervorteilen. Hier spielt beispielsweise die Infrastruktur in Städten eine entscheidende Rolle: Priorisierte Ampelschaltungen per V2X – etwa für ÖPNV, Einsatzfahrzeuge und Radfahrende – machen den Nutzen direkt erlebbar und stärken die Kundenbindung in der Einführungsphase“, sagt Christian Cosyns, Senior Product Manager bei Bosch eBike Systems.
Um das Fahrrad in den V2X-Verkehr zu integrieren, brauche es Anreize, sei es durch staatliche Regulierung oder durch koordinierte Initiativen der Industrie, so Christian Cosyns. „Wichtig sind Planungs- und Investitionssicherheit für die Hersteller“, sagt er. Bosch eBike Systems engagiert sich deshalb in der „Coalition for Cyclist Safety“, einer Plattform, die führende Unternehmen aus der Telekommunikations-, Automobil- und Fahrradbranche sowie aus der V2X-Technologie und renommierte Institute vereint. Ziel ist es, die Technologie durch koordinierte Markteinführungen, technische Synergien und verbindliche Zusammenarbeit breit einzuführen. Parallel zur freiwilligen Kooperation der Industrie passen sich auch die regulatorischen Prozesse an die technologische Entwicklung an. Das europäische Bewertungssystem New Car Assessment Program (NCAP) – maßgeblich für Sicherheitsbewertungen von Neufahrzeugen – wird ab 2026 V2X-Funktionen berücksichtigen. Das schafft einen starken Anreiz für Hersteller, die Technologie zu integrieren.
Heute kommt V2X vor allem dort zum Einsatz, wo Infrastruktur aktiv mit Fahrzeugen kommuniziert, etwa an Autobahnbaustellen. Dort stehen Warnanhänger der Autobahn GmbH mit V2X-Modulen. Nähert sich ein Fahrzeug, empfängt es ein standardisiertes Signal und im Bordsystem erscheint eine Baustellenwarnung. Um die Vorteile von verschiedenen V2X-Funktionen im Fahrzeug nutzen zu können, ist eine steigende Ausstattungsrate wichtig. „Je mehr Fahrzeuge mit der Technologie ausgerüstet sind, desto größer ist der Sicherheitsgewinn für alle“, sagt Florian Wildschütte.
Fazit: Vernetzt bremst besser
V2X ergänzt klassische Sensorik dort, wo diese an ihre Sichtgrenzen stößt. Mit der zweistufigen Bremslogik und dem Datenaustausch zwischen Autos, eBikes und vernetzten Infrastrukturelementen hebt die Technologie die Verkehrssicherheit auf ein neues Level.
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Dr.-Ing. Florian Wildschütte, Forschungsingenieur im Bereich Distributed Systems / Connected Mobility -
Christian Cosyns, Senior Product Manager bei Bosch eBike Systems -
Dr. Frank Hofmann, Chief Expert Connectivity